Einzelhandel - Frau in Corona-Zeiten im Textilgeschäft

Ist der stationäre Einzelhandel noch zu retten?

Die Corona-Pandemie und der Lockdown haben den stationären Einzelhandel schwer getroffen. Auf den Straßen der Innenstädte herrscht ungewohnte Leere. In Zeiten von Social Distancing und Kontaktbeschränkungen nutzen viele Kunden lieber Online-Dienste als vor Ort Kleidung, Parfüm oder Bücher zu kaufen. Für den Winter überschlagen sich bereits die schlechten Nachrichten, Experten warnen vor Insolvenz-Wellen im stationären Einzelhandel. Roman Becker, Entdecker des Fan-Prinzips und langjähriger Marktforschungsberater, analysiert im Interview die aktuelle Lage, spricht über Karstadt, die Textilbranche und Online-Shops – und wirft einen Blick auf die Zukunft des stationären Einzelhandels.

Frage: Herr Becker, Sie beraten Unternehmen seit über 20 Jahren. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Roman Becker: Die Lage ist dramatisch, weil durch die Kontaktbeschränkungen im Frühjahr viele Kunden gezwungen waren, sich anderweitig, nämlich online umzuschauen. Und die meisten haben – auch die weniger online-affinen Kunden – dabei positive Erfahrungen gemacht, denn der Online-Handel ist traditionell im Kundenbeziehungsmanagement sehr gut aufgestellt und erzielt hohe Fan-Quoten. Die aktuellen Beschränkungen betreffen den stationären Handel zwar nicht direkt, allerdings sind viele Stammkunden vorsichtig. Wenn man durch die Innenstädte zieht, wirken diese aktuell verwaist. Oder die Kunden sind bereits zum Online-Handel abgewandert

Frage: Warum gehen denn heute überhaupt noch Menschen in stationäre Einzelhandelsgeschäfte, wo doch alles online verfügbar ist?

Roman Becker: Unsere Studien sind da ganz klar: Die Haptik und die Atmosphäre spielen eine große Rolle. Shoppen gehen ist ein Erlebnis für viele, aber insbesondere schätzen die verbliebenen Anhänger des stationären Handels den Kontakt zu den Mitarbeitern, sie wollen beraten und betreut werden und sind bereit, dafür sowohl die Anreise als auch höhere Preise in Kauf zu nehmen.

Frage: In diesem Zusammenhang behaupten Sie, dass für die prekäre Situation des Handels nicht allein Corona verantwortlich ist, sondern dass diese auch massiv selbstverschuldet ist. Warum?

Roman Becker: Weil der stationäre Handel, statt in die Offensive zu gehen und seine Alleinstellungsmerkmale herauszustellen, in einer Abwärtsspirale durch den zunehmenden Kostendruck bei ausbleibenden Umsätzen zunehmend genau an den Punkten gespart hat, die für die Kunden den Besuch überhaupt noch lohnenswert machen. Das wäre zum einen bei der Ausstattung, zum anderen aber insbesondere bei dem „Herzblutfaktor“ Mitarbeiter. Gleichermaßen wurden Gehälter gekürzt und die Personaldecke immer weiter ausgedünnt. Als Kunde ist man so oft verloren, und wenn man doch einen „freien“ Kundenberater findet, wirkt dieser oft massiv demotiviert. Man fragt sich dann, ob sich der Aufwand und die Mehrkosten im Vergleich zum Einkaufen im Internet wirklich noch lohnen.

Frage: Was wäre dafür ein gutes Beispiel? Karstadt?

Roman Becker: Ja, mit der Übernahme durch die Signa Holding des Österreichischen Unternehmers Rene Benko war der Fokus nicht mehr auf ein Wiederbeleben der Stärken eines stationären Kaufhauses gerichtet, sondern auf die Sicherung der Mieteinnahmen und der kurzfristigen Rendite. So war das Schicksal vorgezeichnet.

Frage: Was können die stationären Einzelhändler jetzt tun, um ihre Kunden zu begeistern, um sie zu Fans zu machen?

Roman Becker: Sie müssen genau analysieren: Was sind die Kundenbedürfnisse? Was erwartet der Kunde, wenn er zu mir in den Laden kommt? Und kann ich dies exzellent bedienen? Wichtig ist es aber, sich hier nicht auf die eigene Intuition zu verlassen, sondern durch eine fundierte Kundenbefragung Erkenntnisse zu erlangen, was der Kunde wirklich braucht. Ein weiterer Punkt, den es zu beachten gilt: Sind die Mitarbeiter auf exzellenten Kundenservice eingeschworen? Sind sie fit und motiviert genug, die Kundenbedürfnisse bis hin zur Perfektion zu erfüllen? Schafft das Team es, vor Ort für den Kunden ein bleibendes Kundenerlebnis zu schaffen? Im besten Sinne so, dass der Kunde nicht nur selbst häufig wiederkommt, sondern das Geschäft weiterempfiehlt. Denn Fans sind die besten Kunden. Sie kaufen mehr, sie kaufen häufiger, sie sind weniger preissensibel und sie empfehlen weiter. Das ist die beste Werbung für jedes Unternehmen.